Kulturgut Handschrift

 

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Es ist schon bizarr, welche grundlegenden Änderungen in Grundschulen als progressive Lernstrategien und Wunderwaffen angepriesen und ohne jeglichen sichtbaren Lernerfolg durchgezogen werden. Die vereinfachte Ausgangsschrift dient vielen hier als Paradebeispiel. Ich arbeite mit jungen Erwachsenen, und in letzter Zeit sind die handschriftlichen Arbeiten merkbar schlechter geworden – teils so konfus und unleserlich, dass es nicht nur auf Seiten der Lehrer für Frustration sorgt.

(Werbung/selbst gekauft)

Wer nicht schreibt, bleibt dumm: Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen von Maria-Anna Schulze Brüning und Stephan Clauss hatte ich schon etwas länger auf meiner Wunschliste, und zwischen den Jahren habe ich es endlich geschafft, mich diesem Buch aus dem Piper Verlag zu widmen. Einige der abgedruckten Schriftprobern erinnern mich sehr stark an das unharmonsiche „Gekrakel“ aus meinem Arbeitsalltag, und da ich mir vorher nie viele Gedanken über Grundschuldidaktik machen musste, bin ich zwar heilfroh wenigstens den Grund für diese seltsamen Buchstabenverknüpfungen zu kennen, aber auch zutiefst erschüttert, mit welcher Vehemenz die Vereinfachung hier ohne erkennbaren Erfolg durchgezogen und beibehalten wird.

Sehr lesenswert fand ich vor allem die beiden Kapitel Die Tücken der vereinfachten Ausgangsschrift und Wie können Lehrer und Eltern Kinder beim Verbessern der Handschrift unterstützen?, da beide für Eltern eine wirklich sinnvolle Hilfestellung bieten. Gelungen ist auch der Ansatz, die Schülermeinung mit zu transportieren, und die Analyse einer Schülerbefragung einzubauen. Wenn selbst „47% aller befragten Schüler […] sich für die Schreibschrift aussprechen“ dann sollte man darüber nachdenken, diese auch weiterhin grundlegend und vor allem sorgfältig zu unterrichten.

„Die Handschrift ist in der Grundschule unverzichtbar. Sie muss die Nummer eins sein in der didaktischen Reihenfolge, weil mit ihr die Spuren fürs Schreiben gelegt werden, die erst danach effektiv digital umsetzbar sind. Und da reicht es nicht, ‚ein bisschen Handschrift‘ zu erlernen, sondern das Fundament des Schreibens muss sorgfältig gelegt werden.“  S. 258

Eigentlich ein sehr sinnvoller Ansatz und unverständlich, dass das Offensichtliche hier von vielen Verantworlichen nicht erkannt und somit nicht gefördert wird. Folgendes Zitat aus dem Buch möchte ich auch noch teilen, denn es fasst die Wichtigkeit der eigenen Handschrift als Werkzeug zum Erfolg sehr treffend zusammen:

„Der handgeschriebene Text stellt für Kinder zu Schulbeginn den ersten sichtbaren Erfolg aktiven schulischen Kompetenzerwerbs dar und erschliesst das wichtigste Medium des Lernens — Gedanken in Schrift festzuhalten. Das Schreibenlernen ist der allererste Schritt zu einem autonomen, selbstbestimmten Handeln, und die Handschrift legt die neuro-kognitiven Strukturen für die individuelle, textliche Informationsverarbeitung an. Sie ist das Fundament des Lernens.“    S.292f

Ich habe bei der Lektüre dieses Buches  ganz offensichtlich meine echo chamber nicht verlassen, habe also meine eigene Meinung zu diesem Thema bestätigt bekommen. Trotzdem habe ich viele wervolle Denkanstöße erhalten, und fand viele Hintergrundinformationen zum Erwerb der Handschrift. Ich empfehle dieses Buch allen Menschen, die im Gebiet Schrift- und schulischem Kompetenzerwerb tätig sind, sowie allen Eltern, denen die Handschrift ihrer Kinder nicht egal ist, und die ihre Kinder fördern möchten. Wer den Verlust der Handschrift mit fortschreitender Digitalisierung erklären möchte, hat den Zusammenhang zwischen Schreiben, logischem Denken und Langzeitgedächtnis nicht zu genüge verstanden und sollte dringend die neueren Studien zu diesem Thema noch einmal zu Gemüte führen. Es geht nicht darum zu sagen „entweder Digitalisierung oder Handschrift“, sondern eher darum, durch eine gründlich gelernte Handschrift eine belastbare Lerngrundlage zu schaffen, um den Herausforderungen eines digitalen Lernumfelds später auch gewachsen zu sein.

„Eine gute Handschrift erzeugt aber nicht nur eine positive Wirkung beim Leser oder Adressaten, sondern auch beim Schreiber selbst. Sie verleiht Selbstbewusstsein, und ihre Ausbildung bringt Kompetenzen mit sich, die über das Handschreiben selbst hinausgehen: ‚Children who can write well have improved confidence and self-esteem, increased concentration, improved academic performance and increased ability to express themselves creatively.‘ (Blowes et al. 2009)“ S. 253f

Habt ihr eine andere Sichtweise oder sogar nachweislich positive Erfahrungen mit der vereinfachten Ausgangsschrift gemacht? Dann freu ich mich von euch zu hören.

Habt ein schönes Wochenende!

Ciao!

 

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